Martin und Steffi wollten uns ja eigentlich wecken, aber ich bin schon deutlich früher wach. 11 Stunden Schlaf sind ja nun wirklich mehr als genug. Allerdings war es unruhiger Schlaf, denn Michael schnarcht (ganz ungewohnt und ein Zeichen für Erkältung), außerdem ist die Matratze stark gewöhnungsbedürftig, mit einem Härtegrad nahe einer Isomatte. Ich ziehe mich an – bin noch sauber vom Hamam – und steige mit der Kamera auf’s Dach. 

Der Suk, den wir heute besuchen, ist wahrlich der Größte dieser Reise und so gar nicht auf Touristen ausgerichtet. Entsprechend neugierig und auch leicht misstrauisch werden wir immer wieder beäugt. Wir treffen auch den ganzen Vormittag nur noch einmal auf touristische Gäste, radfahrende Holländer, die im gleichen Hotel wie wir übernachtet haben. Auf diesem Suk wird all das verkauft, was die Menschen hier so brauchen und sich leisten können. Gleich am Anfang sehen wir am Rande kleine Garküchen und kaufen uns dort einige harte Eier als Frühstückersatz. Neben Obst und Gemüse gibt es alles für Küche und Haushalt, Feld- und Gartenarbeit, für Hausbau und gebrauchte Ersatzteile für Motoren aller Art. An einem Stand entdecke ich Bindfaden, suche mir etwas heraus und gestikuliere die gewünschte Länge. Als ich in die Hosentasche greife, um zu bezahlen, winkt der Verkäufer ab. Ich freue mich, nun haben wir für unsere blauen Plastiksäcke auch die notwendigen Schüre. „Schakran!“

Neben neuer Kleidung und Schuhen gibt es auch viele Stände mit gebrauchten Kleidern, mit Schuhbergen, aus denen mensch sich mühsam die passenden Schuhe heraussucht. Für Ute erstehen wir ein paar rote Schlappen, ihre zu Hause sind gerade kaputt gegangen und für Tabea findet sich noch so ganz nebenbei einen quietschgrünen Satin für ihre Schneiderinnenleidenschaft. In der „Fleischabteilung“ wird mir mal wieder ganz anders, die liegen gelassenen Tierköpfe sind ein gruseliger Anblick, der über allem schwebende Geruch tut sein übriges. Andererseits ist es wohl für uns verwöhnte Europäer mal ganz gut, so deutlich mit der Nase darauf gestoßen zu werden, dass Fleisch halt nicht beim Fleischer wächst und auch nicht nur aus der Tiefkühle kommt. Im Gegensatz zu Midelt – wo die Hühner bei lebendigem Leibe in einer Maschine gerupft werden – wird hier noch Handarbeit geleistet. Schon von fern sehe ich, was dort vor sich geht und möchte einen großen Bogen darum machen. Doch Michael ist interessiert, bleibt stehen und schaut zu. Einer der Schlachter winkt ihn näher, erklärt und zeigt seine Arbeitsschritte. Die Hühner werden gepackt, ihnen wird die Kehle durchschnitten, dann bluten sie aus und werden anschließend gerupft. Unterhalb des Arbeitstisches liegt ein Berg abgeschnittener Hühnerkrallen, der eifrig von Hunden frequentiert wird. Ich bleibe auf Abstand, das ist nicht mein Ding, ein Blick von weitem reicht mir da völlig.

Ziemlich in der Mitte des Suk haben sich drei große LKWs nebeneinander aufgebaut, alle hochgestapelt voll mit Bündeln von Zwiebeln. Hier herrscht – im Gegensatz zum übrigen Geschehen – großes Geschrei. Ich schieße aus der Hüfte ein Foto. Einer der Zwiebelverkäufer gestikuliert, dass er fotografiert werden möchte, ich mache ein „öffentliches“ Foto, da hält er die Hand hin und möchte Bakschisch, na, so nun aber nicht mit mir! Einiges von unserem Kleingeld geht aber auch hier – wie schon vorher vor allem bei den Caskaden – in die Hand von BettlerInnen über. Im Gegensatz zu Deutschland hat Marokko kein Sozialsystem und diese Menschen haben diese kleinen Gesten dringend nötig.

Während wir über den Suk bummeln, fängt es wieder an zu regnen (insgesamt werden wir auf sechs Regentage zurückblicken). Wir umlaufen Pfützen und Matschlöcher, doch dem Treiben auf dem Suk macht der Regen keinen Einhalt. Wir hingegen flüchten in ein kleines Cafe am Straßenrand, wo wir auch Astrid und Karin treffen. Michael wäre wohl auch gern in eine der Garküchen am Rande des Suk gegangen, aber ich traue mich nicht. Bisher haben wir die Reise ohne größere Darmprobleme überstanden, das soll so bleiben. Die vorhin dort gekauften Eier hatten ihre natürliche Verpackung dabei, das wird schon ok sein. Was ich auf dieser Reise an Eiern verdrückt habe, mag ich gar nicht so genau ausrechnen. Aber da ich dem Cholesteringeschwafel der Margarineindustrie eh keinen Glauben schenke, mache ich mir darüber auch keine weiteren Gedanken.
Wir setzen unseren Rundgang über den Suk fort, kommen in einen Bereich, in dem Waren verkauft werden, die bei uns zu Hause wohl nur noch auf dem Sperrmüll landen. Auch hier wird fleißig geschaut, gehandelt und verkauft. Gleich nebenan verkauft jemand neue Türen und Fenstereinsätze aus Metall. Wir kommen an einem Kichererbsenverkäufer vorbei, der vor einem großen dampfenden Topf steht, schauen neugierig in den Karton des Schneckenverkäufers – Schneckensuppe ist eine Spezialität der marokkanischen mobilen Garküchen. Wir streifen an Gewürzständen vorbei, die ihre Ware in offenen Säcken präsentieren. Letztlich entscheide ich mich, doch keine Gewürze zu kaufen, werde also jetzt nie erfahren, wie frisch und aromatisch sie wohl gewesen wären. Lange Reihen Gewürzkräuter hängen aus, der intensive Duft der frischen Minze – Nana - drängelt sich fast überall vor.

Martin ist glücklich, er hat hier in Demnate eine kleine Werkstatt gefunden, die ihm innerhalb von 3 Tagen seinen lang ersehnten Dachgepäckträger zusammenschweißt. Wenn er uns in Marrakesch „losgeworden“ ist, werden die beiden hierher zurückfahren und den Dachgepäckträger abholen. Nachtrag: Martin hat an seine erste Mail an uns nach der Reise ein Foto angehängt: der blaue Bus mit Dachgepäckträger.

Als wir in Richtung Hotel in die Straße einbiegen, sehen wir eine kleine Demo mit ca. 200 Menschen vor uns. Martin kommt mit dem Bus nicht weiter, Michael und ich springen raus und nähern uns vorsichtig dem Demozug – ahnungslos worum es hier wohl geht. Im Laufe des Tages „beschließen“ wir, das war eine 1. Mai-Demo zum internationalen Arbeiterkampftag. Ob wir wohl recht hatten? Im Hotel angekommen, laufe ich schnell aufs Dach um noch ein Foto zu schießen, aber leider versperren mir einige Hütten der hiesigen Gemüseverkäufer die Sicht.

Heute geht es nach Marrakesch. Auf der Fahrt dorthin – 65 km in ca. 1.5 Stunden – verändert sich die Landschaft wieder. Die mageren Getreidefelder machen Obst- und Olivenbaumanpflanzungen Platz, wir sehen Kartoffel- und Gemüsefelder. Die Stadt kündigt sich schon weit im Vorfeld mit großen Roh- und Neubaugebieten an. Viele gleichförmige Häuserreihen versprechen auf großen bunten Reklametafeln „exclusives Wohnen“. Wir durchfahren Marrakesch auf der Suche nach dem Flughafen und einem Hotel in Flughafennähe. Martin möchte die Zentrumsnähe meiden, im Angesicht des Attentats auf dem zentralen Place Jemaa el Fua ein verständlicher Wunsch. Bei dieser Durchfahrt vergleichen wir die beiden Städte Fes und Marrakesch und kommen zu der Überzeugung, dass sie nicht vergleichbar sind. Marrakesch, reich und vergleichsweise modern und trotz Attentat schon wieder sehr touristisch, kommt für uns nicht an das traditionelle, fast mittelalterliche Fes heran. Wie gut, dass wir unsere Reise in Fes begonnen haben. Das war ein guter Einstieg in diese Reise.
Lange suchen wir in den Außenbezirken nach einem Hotel – vergebens. Auch als Martin und Steffi fragen, werden wir immer wieder ins Zentrum von Marrakesch verwiesen. Ich bemerke, dass Martin immer gereizter wird. Das kann ich gut verstehen, mit 6 Reisegästen im Genick ist diese Suche bestimmt keine Reiseleiterfreude. Lange Sucherei, kurzer Sinn: In den Außenbezirken gibt es keine Hotels, fertig!

Also macht Martin kehrt, fährt wieder Richtung Zentrum zurück. Das erste Hotel, das in Frage kommt hat nur noch 4 Betten frei, also weitersuchen. In einer Nebengasse haben Martin und Steffi Erfolg. 3 Dreibettzimmer mit Dusche sind frei. Wir entern das Hotel de Minaret, teilen uns diesmal das Zimmer mit Karin und brechen wenig später „solo“ ins Zentrum auf, das fußläufig in 5 Minuten zu erreichen ist. Also doch mittendrin! Angst kommt bei mir aber nicht auf, die Wahrscheinlichkeit, dass hier und jetzt noch mal was passiert, ist so gering, dass wir sie getrost verdrängen können. Michael und ich marschieren los, probieren aber vorsichtshalber nach drei kleinen Gassen noch mal den Rückweg, damit nichts schiefgeht. Der Stadtplan, den wir aus dem Hotel mitgenommen haben, ist sehr ungenau und wir haben nur eine ungefähre Ahnung, wo sich das Hotel auf dem Plan befindet. Dann geht es Richtung Place Jemaa del Fna durch eine sehr belebte Fußgängerzone, europäischen Standards. Da wir morgens nur 1 Ei und einen Apfel gefrühstückt hatten, wollen wir erst mal was essen. Überall, wo wir stehen bleiben, werden wir von „Checkern“ angesprochen, etwas, das ich so gar nicht leiden kann. Trotzdem nehmen wir so ziemlich den erstbesten, ich habe Hunger und Michael sowieso keine Lust zum Pflastertreten. Eigentlich wäre er viel lieber im Hotel geblieben und hätte an der Rezeption Fußball geguckt. Es gibt – mal wieder – Omlette fromage mit ? (was sich als nicht sehr leckere Wurst herausstellt) und Michael versucht sich an einem mex. Salat, mit wenig Salat, aber viel Käse (mhhh, Gouda, kein Kirikiri), viel Reis und Thunfisch. Warum der als mexikanisch bezeichnet wurde wird uns ewig ein Geheimnis bleiben. Preismäßig war’s ok: Omlette 17 DH, Salat 20 DH.

Nachdem ich MB zum Aufbruch „überredet“ habe, wandern wir die Einkaufsstraße Richtung Zentrum, landen am Place Jemaa el Fna und unser Blick wird sofort auf das zerbombte Cafe gelenkt. Augenscheinlich ist die Bombe im 1. Stock explodiert. Ich zögere, ob ich fotografiere, tue es dann aber doch. Dieses Foto gehört – wie dieses Erlebnis – eben auch zu unserer Reise und es hat sie ja zum Ende hin auch stark beeinflusst. 
Auf dem Place tobt schon wieder das Leben wie wohl eh und je. Um marokkanische Geschichtenerzähler stehen Trauben von durchweg männlichen Zuhörern, Schlangenbeschwörer versuchen Touris auszunehmen, wollen mir oder MB eine Schlange umlegen, aber wir wehren uns lange erfolgreich. Erst später auf dem Rückweg werde ich schwach, fotografiere offen die Schlangen, dann eher unwillig MB mit Schlange und Schlangenbeschwörer am Hals. Ich gebe mein Geld und werde beschimpft – es sei zu wenig! Macht nix, ich bleibe dabei, ein bisschen Nepp mag ja ganz gut sein, aber die Preise bestimme in solchen Situationen ich – und auf unhöflich reagiere auch ich unhöflich. Alles ist uns hier sowieso zu laut und zu aufdringlich. Wir spazieren über den Platz, vorbei an der abgesperrten Unfallstelle, vorbei an aufgestellten Kerzen und Blumen für die Opfer des Attentats.

Kurz darauf geht es in den festen Suk, gewölbeähnlich aufgebaut, aber eigentlich doch nach oben offen und nur mit Latten und Plastik abgedeckt. Insbesondere der vordere Teil ist ausschließlich für Touristen mit dem üblichen Touri-Schnick und Schnack: Schmuck, Schals, Lederwaren, Kitsch und Tand. Vieles von dem haben wir vor allem schon mal an den Wasserfällen gesehen, aber nicht in dieser Fülle und nicht zu diesen Preisen. Wir gehen tiefer in den Suk und werden mit „Safran, Madame“ gelockt. Ich muss wirklich lachen, die halten die Touristen für so blöd, sie wollen mir den gelben Kurkuma als Safran verkaufen! In einer kleinen Ecke finden wir einen ursprünglichen Suk mit gebrauchten Klamotten von Marroks für Marroks. Auf einem kleinen offenen Platz setzen wir uns vor ein kleines Cafe und Michael kann sich vom Pflastertreten ausruhen. Nach dem Kaffee geht es langsam zurück, eigentlich schade, ich wäre noch gern tiefer eingetaucht. Auch hier gibt es Gerberviertel und Handwerker. Aber wir hätten suchen müssen und Michael zeigt sich wenig motiviert. Also wieder zurück zum Place, dort suchen und finden wir die Post, um eine Briefmarke zu kaufen, doch leider schon geschlossen. So wird wohl die einzige Postkarte, die wir verschicken wollten, eine deutsche Briefmarke zieren. (Nachtrag Juni: Sie ist immer noch in meinem Rucksack ;-) Ich möchte noch auf der anderen Seite des Place schauen, was es dort so gibt, kann MB aber nur noch mit Cafe und Sitzen ködern. Wir suchen ein Cafe, sitzen auf der Terrasse und bestaunen die Hektik und das Treiben vor uns.

Abends sind wir wieder mit der Gruppe verabredet. Martin und Steffi haben ein gemeinsames Abschlussessen vorgeschlagen – eine gute Idee. Zusammen gehen wir in ein Restaurant über dem Riad-Hotel, das den Beiden empfohlen wurde. Die Speisekarte ist deutlich reichhaltiger als gewohnt  und leider auch deutlich teurer. Es werden mehr als 10 verschiedene Tagines und Broschettes angeboten. Michael findet seine Lieblingstagine mit Backpflaumen wieder, stellt aber später fest, dass seine erste Tagine in Fes im La Kashba auch die beste der Reise gewesen ist. Insgesamt ist das Essen ok, aber 100 DH pro Tagine sind unseres Erachtens nicht gerechtfertigt. Hartmut und Christian haben sich beim Essen zurückgehalten, sie wollen noch mal auf den Place Jemaa el Fna zurück, um die dortigen Garküchen auszuprobieren. Ich bin da nach wie vor zögerlich, Schneckensuppe und ähnliches, aus der abendlich aufgebauten Garküche ohne fließend Wasser, ne-ne, lieber nicht. Nach dem Essen bummeln wir noch mal über die Fußgängerzone und den Place, der seine Berühmtheit nicht zuletzt dem Treiben am Abend zu verdanken hat. Im Dunkeln leuchten Garküchen und Verkaufsstände. Als ich dort einen langen Hals Richtung aufgebaute Garküchen mache, bleibt mir nichts anderes als mein Vorurteil zu revidieren, hier sieht alles recht hygienisch aus. Die Menschentrauben um Gaukler und Geschichtenerzähler sind noch gewachsen und auf dem Dach eines Restaurants sehen wir einen Feuerspucker, der mit seinem leuchtenden Atem die Nacht erhellt. Auf dem Platz sitzen, recht eng nebeneinander, begnadete und nicht so begnadete Musikanten; hennamalende Frauen; eine Wahrsagerin, die einem Marokkaner gerade die Tarottkarten legt.  In mir klingt noch die Einsamkeit der Berge und der Wüste und so tobt mir hier das Leben einfach zu laut.