6:15 Uhr ist Wecken angesagt. Martin schmeißt die Musik an und mit verklebten Gehirnwindungen helfe ich beim Abbauen und Einpacken und werde langsam wach. Erst nachdem das Zelt verstaut ist, bekomme ich meinen ersten Kaffee. Morgens macht sich die Gruppe immer über mich lustig, ich sei ein Morgenmuffel? Die sollten mich mal erleben, wenn ich muffele!!  Heute steht wieder „fahren“ auf dem Programm. Wir wollen den Hohen Atlas queren. Ein grandioses Bergmassiv löst das andere ab. Wir kommen aus dem Staunen und Schauen nicht mehr heraus.

Schade, dass wir Ute nicht dabei haben. Sie könnte uns mit ihren geologischen Kenntnissen über Steinzusammensetzungen und Herkunft bestimmt weiterhelfen, doch so sind wir auf Vermutungen angewiesen. Eins ist sicher: hier waren irre Kräfte am Werk. Beim Abstieg aus der Sahara hatte sich mein Ischias gemeldet, ich hatte gedacht, ich könnte ihn ignorieren. Doch in einer Pause mit wunderbarem Ausblick klemmt er so, dass ich die Hilfe von Michael brauche, um von meinem Standort wieder in den Bus zu kommen. Also schmeiße ich eine Ibu ein und hoffe auf Linderung, die aber mal wieder auf sich warten lässt.

Am späten Vormittag kommen wir in die Gegend, für die Steffi und Martin einen „Spaziergang“ etwas abseits der Straße in ein Seitental hinein geplant haben, um dort ein abgelegenes Dorf zu besuchen. Zwei Stunden sind dafür angesetzt. Ich warne schon mal vor, da ich nicht weiß, was mein Ischias dazu sagen wird – lieber einen Tag etwas sachte, als den Rest des Urlaubs Schmerzen. Und es ist auch kein Problem, da der Hin- und Rückweg derselbe ist. Langsam trotte ich hinterher. Michael, der bei mir bleibt, muss sich nicht langweilen, hier – wie fast überall auf dieser Reise – gibt es ohne Ende Fossilien zu entdecken. Ich bin sehr neugierig, wie hoch der steinige Anteil unseres Gepäcks am Ende der Reise sein wird. Unten am Fluss kniet eine Frau, das hölzerne Waschbrett vor sich und bearbeitet ihre Wäsche. Wir wandern in das enge Tal, das Wetter zeigt sich von seiner guten Seite, die Sonne scheint. Langsam nähern wir uns dem Dorf. Rechts des Weges spielen drei Jungen am Rande eines Baches. Sie sind so in ihr Spiel mit einem Stöckchen vertieft, dass sie uns gar nicht wahrnehmen, obwohl hier doch Touris noch unter „Sensation“ verbucht werden und oft um Money oder Stilos angebettelt werden. Weiter geht es ins Tal hinein. Ein kleiner Junge, ca. 4 bis 5 Jahre alt, rennt hinter Michael her und hält die Hand ziemlich aufdringlich auf. Doch Kinder bekommen kein Geld von uns, obwohl Michaels weites Herz hier ganz schlecht „Nein“ sagen kann. Aber die Erfahrung darf sich nicht in den kleinen Köpfen festhaken, dass Schule vielleicht gar nicht nötig ist, um an Geld zu kommen.

Marokkos Kultur braucht kluge Kinder, die ihren Weg machen. Und wir wissen, Marokko ist auf dem richtigen Weg. Überall sehen wir neue Schulgebäude und die Regierung versucht mit einem weiten Schulbusangebot möglichst viele Kinder auch in die Schulen zu bringen. Trotzdem sind Schulwege von mehr als 2 Stunden zu Fuß noch völlig normal.

Michael und ich machen uns langsam an den Rückweg, ich will es sachte angehen lassen, denn heute Abend liegt auch noch ein Marsch mit Gepäck rund 600 Stufen hinab zum nächsten Camp an. Der kleine Junge bleibt hinter uns zurück, nimmt aber auch unsere Richtung. Etwas weiter vor uns hören wir eine laute aufgeregte Frauenstimme rufen, auf die der Junge reagiert. Er schlägt einen weiten Bogen um uns herum, hin zu seiner Mutter. Sie schimpft weiter lautstark mit ihm und verprügelt ihn kräftig mit einem frischen Stecken. Als wir näher kommen schickt sie ihn den Hang hinauf zu den Häusern, greift sich mit einem bösen Blick auf uns einen Stein, geht schnellen Schrittes vor uns her. Sie wirkt sehr angespannt, das ändert sich erst, als sie auf zwei andere Frauen trifft. Ich kann nur raten, vermute aber, sie hatte einfach eine höllische Angst, dass wir ihrem Sohn etwas tun, ihn mitnehmen oder was auch immer. Das ist ein Konflikt, der uns doch öfter auf dieser Reise begegnet. Unsere moderne Lebensweise trifft in Form von Landrovern und Crossfahrzeugen auf diese alte Tradition, in der die Menschen auf dem Stand des Mittelalters leben, allerdings hier und da begleitet von Satellitenschüssel auf den Dächern. Alte und neue Welt kommen sich nah und verursachen Ängste, die wir uns wohl so gar nicht ausmalen können. Also müssen wir uns rücksichtsvoll in dieser Welt bewegen, die Tabus erahnen und akzeptieren. Wir sind Gäste in dieser Welt und sollten uns so bewegen, dass nicht zu viel Achtung voreinander verloren geht.

Wir wandern den Weg weiter zurück – immer noch im Gespräch über die Mutter mit ihrem Sohn - da kommt uns auf unserm Schotterweg eine Gruppe Motorradfahrer (Spanier) entgegengedonnert. Sie sind so wenig aufmerksam, dass mich einer der Fahrer fast umgefahren hätte. Unter diesem Erlebnis bekommt die Reaktion der Mutter auch noch mal eine andere Bedeutung, wer weiß, welche Erfahrung sie schon mit solchen „Raudi“-Touristen gemacht hat. Bald verklingt das Dröhnen der Motorräder und es kehrt wieder Stille ein.

In dem Wäldchen auf der anderen Seite des Flusses entdecke ich eine Frau, die mit ihren Hühnern zum Fluss spazieren geht, ich zücke die Kamera, das werden Bilder für Tabea, meine Hühner-Fan-Tochter. An der Brücke sitzt immer noch die Frau mit ihrer Wäsche am Fluß, nun liegen ausgebreitet auf den Steinen drei sehr schöne bunte Teppiche in der Sonne zum Trocknen. Was für eine mühsame Arbeit. Auf der weiteren Fahrt sehen wir immer wieder Wäsche ausgelegt. Entweder ist heute traditioneller Waschtag oder die Wetterverhältnisse sind so, dass heute eben Wäschewaschen angesagt war.

Am Ende der Brücke gibt es ein kleines Cafe, einen Kiosk und eine Schlachterei mit aushängendem Fleisch. Diese Schlachtereien gibt es fast in jedem Dorf, am Haken hängen halbe Ziegen, Hammel und Hühner, hin und wieder auch mal ein Stück Rind. Fast immer hängt der nicht abgehäutete Kopf noch dran. Seit wir durch die Berge fahren, sind diese Fleischstücke mit weißem Tuch abgehängt, nur der Hoden hängt immer draußen. Mensch muss schließlich sehen, was es zu kaufen gibt. Wir setzen uns vor das kleine Cafe, bestellen Cafe Noir und warten darauf, dass die anderen zurückkommen. Ich genieße es, in Ruhe in der Sonne zu sitzen, endlich ist es mal wieder richtig warm. Aber was soll’s, das Reisewetter kann mensch sich nicht schnitzen. „Maken muschkin“ (macht nix) oder auch „inschallah“ (mit Gottes Hilfe) ist da die richtige Einstellung. Ich schreibe in Hast mein Reisetagebuch runter. Ich hänge immer noch fast einen ganzen Tag hinterher. Als die anderen zu uns kommen, fehlt Martin. Er ist an den drei bunten Teppichen hängen geblieben und feilscht wie ein alter Berber. Als er wieder kommt, macht er einen recht zufriedenen Eindruck, dass könnte geklappt haben.

Als wir los wollen, geht Michael zahlen und wird um 100 DH erleichtert, das erscheint nicht nur Martin zu viel. Er rechnet nach und wir kommen gemeinschaftlich auf max. 70 DH. Martin lässt daraufhin mit dem Cafebesitzer ein lebhaftes und engagiertes Gefeilsche laut werden. In einer Mischung aus arabisch, spanisch und englisch macht er klar, dass der Kaffee überall 5-6 DH kostet und nicht mehr. Der Wirt fühlt sich auf die Füße getreten und rückt die 100 DH wieder raus und 5 DH mehr zur „Gesichtswahrung“. Wir sammeln Kleingeld zusammen, bezahlen die 70 DH und lassen selbstverständlich auch die 5 DH auf dem Tisch liegen. Nebenbei wird Martin auch handelseinig über den Teppich und wir fahren mit dem Bus zur Trockenstelle um ihn zu holen. Der Teppich ist bezahlt, Martin will ihn einladen, da bekommt einer der „Händler“ einen Anruf vom „Patron“. Jener ist gegen den Handel und so muss Martin den Teppich da lassen. Ob diese Verweigerung in Zusammenhang mit dem Preiskampf beim Kaffee stand, wird auch zu den Dingen gehören, die wir nie erfahren werden. Im Bus unterhalten wir uns noch eine Weile über den Kaffeepreis. Es wäre für uns nicht dramatisch gewesen, die 100 DH (10 Euro) zu bezahlen, aber es ist nicht in Ordnung, wenn uns der Wirt als Touris „melken“ will. Mag sein, dass die motorenstarken Spanier und Franzosen hier schon die Preise verdorben haben.

Weiter geht die Fahrt durch den hohen Atlas über eine Asphaltpiste, die diesen Namen immer seltener verdient. Regen und Sturm haben die Felsen verwittern lassen und die Straße ist immer wieder verschüttet worden. Zwar sind die dicksten Brocken von der Straße geräumt, aber der Belag hat doch sehr gelitten. Auch auf dieser Strecke werden wir wieder - wie schon vorher einige Male - durch kleine "Straßenräuber" aufgehalten. Kleine Jungs stehen mit Schaufel und Spitzhacke an einer provisorisch geräumten Stelle und immer wenn ein Fahrzeug kommt, kommen sie ins Arbeiten und hoffen auf Bakschisch. In der Steinwüste ist uns die "weibliche" Form davon begegnet, kleine Mädchen rennen an den Straßenrand, um mit einer leeren Wasserflasche zu wedeln.  In allen Fällen beobachten wir im Hintergrund die wartenden Erwachsenen, die die Kids gewiss gleich um das erworbene Geld erleichtern. Eigentlich in beiden Fällen ein wenig lohnendes Geschäft: Die Marokaner kennen das schon und Touris kommen auf diesen Strecken sehr selten vorbei.

Insbesondere für Martin am Steuer wird die Fahrt nun sehr anstrengend. Ich sitze eine Weile vorn auf dem Beifahrersitz und gerade hier wird mir klar, wie schwierig die Piste zu fahren ist. Ich biete Martin an, ihn beim Fahren auch ablösen zu können, ich bin durch meine Zeit als Busfahrerin auch solche Pisten gefahren. Aber Martin nimmt das Angebot nicht an und wenn ich ehrlich bin, ich an seiner Stelle hätte es auch nicht getan. Da kann ja jede kommen und sagen, sie könnte das. Cool

Enge Kurven lassen – auch bei sehr geringem Verkehr – immer doch Gegenverkehr vermuten, der auf der teilweise einspurigen Fahrbahn zu gefährlichen Ausweichmanövern führen müsste. Wir haben Glück und nur Gegenverkehr an Stellen, an denen auch 2 Busse aneinander vorbei passen. Uns begegnen fast nur abenteuerliche beladene Busse unserer Größenordnung, mit sehr viel Gepäck auf dem Dach und darauf fast immer auch noch Fahrgäste. Martin erzählt, dass diese Fahrt über den Hohen Atlas auch für die Berber sehr teuer ist. Sie bezahlen oft für einen Dachplatz 12 DH oder mehr. Außerhalb dieser Route sind die Preise für die Mitnahme in den Mitfahrtaxis und Bussen deutlich niedriger. Außerdem begegnen uns einige wenige touristische RadfahrerInnen, davon ein älteres französisches Paar, die mindestens schon die 70 erreicht haben. Wir drücken unsere Hochachtung aus, diese Strecke mit dem Fahrrad dürfte schon Jüngeren reichlich zu schaffen machen.

Nach diversen Pässen, von denen der höchste 2.100 m hoch ist, verlassen wir langsam den Hohen Atlas und erreichen eine fruchtbare Ebene mit vielen Kornfeldern, in denen auch immer wieder Olivenbäume stehen. Das Korn ist auf vielen Feldern schon reif. Es steht sehr mager und niedrig und wird hier meist noch von Hand mit der Sichel geerntet, zu Garben gebunden und später gedroschen. Wir passieren die berühmte Felsbrücke Imi nIlfri, die Hartmut auf seinem Programm hat. Mir scheint, dass Martin wohl von sich aus dort nicht gehalten hätte – er ist jetzt schon reichlich kaputt von der Fahrt und möchte endlich Feierabend machen. Einige von uns steigen die vielen Stufen in die Schlucht ab – aber mehr als 25 Minuten will Martin nicht warten. Das ist mir zu knapp und drum bleiben wir oben. Martin drängelt bestimmt auch berechtigt, vor uns liegen noch 600 Stufen und der Zeltaufbau, das alles wollen wir noch im Hellen schaffen. Kurz nach 18 Uhr sind alle wieder da und die Fahrt geht weiter. Von weiten Teilen dieser Fahrt fehlen mir leider Fotos, mein Akku ist leer.

In Ouzoud angekommen stellen wir den Bus auf einem bewachen Parkplatz ab, schultern unsere sparsam bepackten Rucksäcke, gehen an vielen kleinen Lädchen und Restaurants entlang, steigen 1 Stufe hoch und 627 Stufen gut ausgebaute Stufen wieder ab. Nach einer Weile wird der Blick frei auf einen beeindruckenden Wasserfall, der in drei Stufen ins Tal stürzt. Unten angekommen müssen wir noch über Steine klettern und über eine (sehr) provisorische Brücke den Bach überqueren. Auf der anderen Seite geht es über Naturstufen sehr unterschiedlicher Höhe wieder hinauf. Langsam wird es dämmrig. Im verbleibenden Restlicht bauen wir unsere Zelte auf und sammeln uns anschließend auf der dunklen Terrasse des Campingplatzes. Elektrisches Licht gibt es hier nur aus einer Glühbirne in der Küche, die von einem Solarpaneel gespeist wird.

Martin hat gleich bei der Ankunft Tagine für alle bestellt und das übrig gebliebene Rinderfilet dem Wirt dazu in die Hand gedrückt. Das löst nicht bei allen nur Begeisterung aus, lässt sich aber nicht mehr ändern. Mit den Getränken kommt auch Licht in Form von Kerzen und später zum Essen ein Gaslicht. Leider ist die Tagine diesmal nicht so toll, unsere ist so stark angebrannt, dass nur die obere Hälfte überhaupt essbar ist. Pech – aber der Hunger treibt’s rein. Wir kriechen ins Zelt und die Nacht ist ruhig. Zweimal werde ich allerdings von lautem Krötengequake direkt neben meinem Ohr geweckt.