Morgens, während Michael abwäscht, kommen just zu dieser Zeit alle Frauen aus den Zimmern, sie brauchen dringend auch Wasser aus dem einzigen Hahn auf dem Platz vor der Gästeanlage. Neugierig wird unsere Truppe von allen Seiten beäugt und einige Frauen müssen verdeckt lachen, als sie sehen, dass bei uns auch die Männer den Abwasch machen. Auch wir stehen in der Gegend rum, die Kamera auf Hüfthöhe im Anschlag. In Marokko ist es besser verdeckt zu fotografieren, viele Menschen mögen es nicht. Daher heißt es entweder fragen oder so fotografieren, dass es keineR merkt. Weiter geht die Reise durch die endlose Steinwüste. Am Horizont müssten wir eigentlich den mittleren Atlas sehen können, aber es ist ziemlich diesig und wolkenverhangen. Einige der Wadis sind mit etwas Wasser gefüllt, ein Zeichen, dass es in den Bergen kräftig geregnet hat. Steffi: „Wir waren hier ja schon, aber wir wollen nicht zuviel erzählen, damit wir keine falsche Erwartungshaltung bei Euch wecken.“ Wir drängeln, wir wollen was hören, zu sehen ist im Moment meist das gleiche: Steine. Also erzählen die beiden, dass sie ungefähr hier an dieser Stelle eine Wanderung in die Wüste gemacht haben und eine Kamelherde getroffen haben.

Wir fahren über den nächsten Huckel und was sehen wir? Eine Kamelherde, mit einem Bullen, diversen Kameldamen mit Babies und dazu ein Schwung Halbstarker! Natürlich wird angehalten und alle möchten möglichst gleichzeitig aus dem Bus. Langsam und vorsichtig nähern wir uns der Herde, wir wollen sie ja nicht verscheuchen. Doch anstatt wegzulaufen, kommt sie auf uns zu. Erst wundern wir uns, aber dann sehen wir, dass der Hirte die Herde auf uns zutreibt. Offensichtlich ist er genau so neugierig wie wir auch. Der Hirte ist ein Junge, höchstens 15 Jahr alt. Er hat leider schon sehr harte Gesichtszüge und schaut uns misstrauisch an. Steffi sucht Kleider aus dem mitgebrachten Fundus in seiner Größe und findet einen tollen Fleecepulli. Ein Strahlen geht über sein Gesicht und das Kind kommt wieder durch.  Eigentlich soll er noch ein paar Schuhe bekommen, er läuft hier in diesem unwegsamen Gebiet in Badelatschen rum, doch leider haben wir nichts in seiner Größe dabei.

Gegen Mittag erreichen wir die ehemalige Bergwerkstadt Midelt. Sie liegt am Fuß des schneebedeckten Ayachi-Massivs (3737 m). Hier kaufen wir wieder Gemüse, Obst, einen halben Truthahn und anderes ein, wir wollen es mit nach Aoli nehmen, wo wir in einer Berberfamilie zu Gast sein werden. In Midelt gibt es in fast allen Restaurants gebratene Hähnchen im Angebot, da greifen wir doch zu. 

Hinter Midelt fahren wir an der für unsere Verhältnisse „wilden“ Müllkippe vorbei. Aber der Müll liegt dort schon länger und so schauen nur noch Fahnen von weißem, gelbem, rotem Plastik aus der Erde hervor. Ziegen, Vögel und Insekten haben alles Biologische längst verwertet. Hier könnte recht sauberes Plastik gesammelt werden, erzählt Michael, der die Erfahrung dazu aus seinem Ägyptenprojekt hat. Für „reine“ Plastikware zahlt China derweil eine Menge Geld. Später sollen wir an einer anderen Kippe auf diese Sammler treffen. Diesmal sammelt Michael, aber nicht Plastik sondern eine „Trophäe“. „Ein Büffelkopf“, ruft er, als wir an der Deponie vorbeifahren. Bis es vorn bei Martin am Steuer angelangt ist, vergehen rund 200 m. Martin glaubt es zwar nicht, setzt aber trotzdem zurück. Auf den meist autofreien Straßen Marokkos geht das problemlos. Und hier kommen wir sowieso langsam in eine Gegend, in der wir mehr Esel als Autos sehen werden. Michael hat richtig geguckt: Ein  skelettierter Büffelschädel mit ein bisschen Fell im Stirnbereich. Martin holt ihn und ist schwer begeistert. Das soll unser neues Kühlertier werden. Bisher hing am Kühlergrill ein Ziegenkopf aus Korsika. Einige Stunden später wird Martin den Büffel festgeschnallt haben und ab dann zeichnet uns ein neues Fahrgefühl aus: wir sehen in lachende, ungläubige und erstaunte Gesichter, egal ob männlich oder weiblich, ob Kind oder Greisin. Sie zeigen mit dem Finger hinter dem Bus her, erzählen dem Nachbarn davon – wir haben viel Spaß damit.

Von Midelt aus geht es Richtung Moulouya-Schlucht. Die Fahrt führt durch fossiles Gebiet und in einer Pause gehen alle mit Feuereifer auf die Suche, Blickrichtung gen Boden und es gibt reichlich Beute: Versteinerte Schnecken, Stängel und Blätter und vieles „das was sein könnte, oder auch nicht“.

Die Berge werden schroffer und wir erreichen die Moulouya-Schlucht. Hier wurde bis in die sechziger Jahre silberhaltiges Bleierz abgebaut. Nun sind die Anlagen verlassen – sagt der Reiseführer. Verlassen? Schon beim Einfahren auf der staubigen Piste sehen wir links im Fluss einige Männer mit einfachen Schnüren angeln. Weiter flussaufwärts hocken zwei Männer im Fluss und waschen Gestein aus, ganz so wie wir es aus den Italo-Western kennen. Weiter führt uns der Weg an den verfallenen Anlagen vorbei. Martin erzählt, dass er hier einen Freund treffen könnte, Mohra, der nur noch einen Zahn sein eigen nennt. Kaum sind wir in Aoli eingefahren, steht Mohra mit den einzigen anderen Touristen außer uns auf der Straße. Als Mohra Martin erkennt, lässt er seine eventuellen Kunden einfach stehen und begrüßt Martin voller Freude. Wir werden auf den üblichen Tee eingeladen. Dafür richtet Mohra extra Teppiche, Felle und Kissen auf der Veranda vor seiner Wohnung für uns her. Wir trinken unseren Tee und Mohra stopft sich dazu seine „Kif“-Pfeife. Zwar ist der Handel mit Kiff (arabisch für Haschisch) auch in Marokko verboten, trotzdem rauchen viele Männer überall öffentlich ihre Kif-Pfeifen, auch in den Cafés in den Städten. Und jetzt wissen wir auch endlich. woher der Ausdruck „kiffen“ kommt.

Mohra ist bei näherem Hinsehen noch gar nicht so alt, wie sein einziger lang gewachsener Zahn vermuten lässt. Er verdient sein Geld mit dem Verkauf von Steinen und wir kaufen ihm für rund 100 DH 3 schöne Steine ab. Ich bin sicher, sie sind es nicht wert, aber ich bin auch sicher, er kann das Geld gut gebrauchen. Er holt eine alte Zeitung um die Steine einzuwickeln und uns schaut Angela Merkel an – es ist eine Ausgabe von 2010, von einem Besuch Merkels in Marokko. Wir radebrechen hin und her, weil wir wissen wollen, worum es bei dem Artikel geht. Wir vermuten, es waren die Einreisebestimmungen für NordafrikanerInnen, sind uns aber nicht ganz sicher. Aber wir haben ein bisschen arabisch dazu gelernt: „kif kif“ hat nichts mit dem eben erwähnten Rauchgenuss zu tun, sondern könnte mit „so und so“ übersetzt werden.

Anschließend geht die Fahrt über eine recht abenteuerlichere Piste weiter. Einmal müssen wir aussteigen und Martin „opfert“ sich für uns. Er fährt den Bus über eine aus Holzplanken bestehende Brücke, die so gar nicht vertrauenserweckend aussieht. Tatsächlich poltert der Bus zwar unversehrt über die Brücke, aber die Holzbohlen schlackern teilweise lose auf der Unterlage. Ca. einen Kilometer vor unserm heutigen Ziel steigen wir noch mal aus und gehen den Rest zu Fuß. Das hat auch den Vorteil, dass  Martin und Steffi dort erstmal vorwarnen können, dass wir gleich nachkommen. Wir wandern den staubigen Weg entlang und erreichen ein winzig kleines Berberdorf, bestehend aus Lehmbauten. Die ersten beiden Häuser haben kleine Solarpanelle auf dem Dach und Satellitenschüsseln. Das Dorf wird im hinteren Teil noch mal durch einen kleinen Fluss geteilt. Wir erreichen den Bus, der derweil von vielen Kindern und Frauen umringt ist. Steffi teilt fleißig Kinderkleidung aus, achtet darauf, dass jedeR was abbekommt und Michael, Hartmut und Christian bringen mitgebrachte Kulis unter die Kinder, die als „Stilos“ heiß begehrt sind.

Martin hat derweil seine Dorfbekanntschaft erneuert. Er war hier schon mal vor einigen Jahren. In dieser Zeit hat er auch unsere Gastgeberfamilie kennengelernt. Damals war der ältere Sohn Mohamed krank, er hatte schon seit Tagen hohes Fieber und der Vater war zu Fuß losgegangen, um Aspirin zu holen. Martin hat den Jungen ins Krankenhaus gefahren und gilt dort nun als Retter. Entsprechend groß war die Freude auch bei dem kleinen Mohamed, derweil wohl so um die 10 Jahre alt und seiner Familie. Martin war schon mal mit einer Gruppe in Aoli und einige Familien im Dorf reißen sich darum, uns aufzunehmen. Diesmal sind die Eltern von Mohamed „dran“, obwohl Quidel und Melida sehr beengt auf der anderen Seite des Flusses wohnen, haben sie es sich sehr gewünscht. Wir schultern unser Gepäck und los geht es durch das Dorf und über eine stabile Hängebrücke. Etwas verlegen stehen wir vor der einfachen kleinen Lehmhütte, werden aber energisch herein gewinkt. Wir ziehen im dämmrigen Flur die Schuhe aus und betreten das einfach eingerichtete Wohnzimmer der Familie. Der Lehmboden ist mit schönen Teppichen bedeckt, bunte Kissen lehnen an der Wand. In einer Ecke steht eine kleine Kommode mit einem Gaslicht. Ein kleines Fenster mit verziertem Gitter und einer Plastikplane anstatt einer Glasscheibe gibt ausreichend Licht. Wir nehmen auf den Teppichen Platz und werden gleich mit Tee bewirtet. Dazu reicht Melida selbstgebackenes Fladenbrot und Sit (Öl). Quidel und Melida freuen sich sehr, dass wir ihre Gastfreundschaft angenommen haben. Melida wird heute für uns kochen, Zutaten haben wir hoffentlich reichlich mitgebracht, so dass es auch darüber hinaus noch für die Familie reicht. Viele Stunden später wird das Couscous mit Gemüse und Fleisch fertig sein. Melias Küche ist ein kleines Eckchen am Ende des schmalen Flurs. Arbeitsplatte ist der Lehmfußboden, auf einer kleinen Kommode an der Wand steht ein 2-flammiger Gasherd, gespeist von einer Gaskartusche. 

Natürlich hat es sich auch unter den Männern herumgesprochen, wer bei Quidel zu Gast ist und so ist nicht nur Quidel selbst da, sondern ein Arbeitskollege, mit dem er gemeinsam eine Miene hat und dessen Neffe, ein junger aufgeschlossener Mann, der schnell mit uns in Kontakt kommt. Nachdem Melida mit den Vorbereitungen fertig ist – ich habe noch nie eine Frau so schnell Gemüse putzen und schneiden sehen – kommt sie auch zu uns, hockt sich nieder und beteiligt sich an den allgemeinen Kommunikationsversuchen. Wir machen eine Namensrunde, aber unsere Gastgeber können sich die wenigsten Namen merken. Nur bei Michael klappt es, als er sich vorstellt, rufen die Männer gleich „Ballack“ hinterher. Irgendjemand kommt dann auf die Idee, uns arabische Namen zu geben. Steffi wird Fatima, Astrid Nora, Karin Hannah und ich Naima, Michael wird wie Allerortens Ali Baba genannt. Es wird getrommelt – auf einer Plastikschüssel und dem Servierblech, getanzt und gelacht, Martin holt seine Gitarre und alle lauschen andächtig. 

Unser Gastgeber kommt mit der Plastikschüssel, einem Wasserkessel und einem Handtuch zum Händewaschen. Nacheinander werden die Hände aus dem Kessel bespült und dann wird das Handtuch zum Abtrocknen gereicht, so haben alle (halbwegs) saubere Hände. Ein zweiter kleiner runder Tisch wird hereingetragen und Melida tischt das Essen auf zwei großen Platten für immerhin derweil 15 Personen auf. Auf einer Grundlage von Couscous ist Gemüse und in der Mitte Fleisch angerichtet. Gegessen wird mit der rechten Hand, es wird ein Häppchen Couscous mit den Fingerspitzen gegriffen, in der Handfläche zu einem Bällchen gerollt und dann in den Mund „geworfen“. Wir stellen uns natürlich nicht sonderlich geschickt an und so werden wir mit Bällchen von unseren GastgeberInnen „gefüttert“, die zur Erheiterung aller immer größer werden. Ganz wie es Sitte ist, werden uns die besten Stücke zugeschoben. Da ich es nicht so mit den Kohlehydraten habe, habe ich etwas verstärkt bei den Karotten zugegriffen, das wurde sofort bemerkt und daraufhin wurden mir immer wieder Karottenstückchen zugeschoben. Sehr aufmerksam! 

Nach dem Essen – wohl so gegen 22 Uhr – richten wir langsam den Raum für uns zum Schlafen zurecht. Das Tischchen mit den Tellern stellt Melida einfach nach draußen vor die Tür und schon ist Platz für unsere 8 Isomatten – aber gerade so eben. Vorher stellt sich insbesondere für uns Mädels noch mal die Frage nach dem WC. Melida führt uns nach draußen, geht 10 m über den Hof und verschwindet mit uns zwischen zwei Mauern, der Fußboden ist mit Stroh und Schafmist bedeckt. Sie bedeutet uns, hier sei das Klo, indem sie einfach die Röcke hebt und sich niederlässt. Wir machen es ihr nach, Gemeinschaftspinkeln am Abend, etwas ungewöhnlich, ist das doch „bei uns“ eher eine männliche Veranstaltung. 

Alle krabbeln unter ihre Schlafsäcke, wir löschen die Gaslampe und schnell kehrt nach einigem Geraschel Ruhe ein.